Ausflug zum Seebahnhof von Le Verdon
Wie oft habe ich am Strand des Médoc den Blick nach Westen gerichtet und den Horizont mit meinen Gedanken überquert – in einem Dampfer gen Amerika. So könnte es gewesen sein, die Wunschvorstellungen damals wie heute, von hier aus in die Neue Welt hinauszufahren. Und so hätte das damals auch gehen können: Ich begebe mich nach Le Verdon zum Seebahnhof, steige nach Erledigung aller Formalitäten auf das Schiff, geschäftiges Treiben am Kai, die Schornsteine rauchen, die Leinen werden losgemacht und wir drehen in Richtung offenes Meer, Amerika vor uns.
Ein Traum, aber es gab tatsächlich eine Zeit, da konnte er wahr werden: In den 30er, 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es wirklich einen Seebahnhof, von dem aus große Passagierschiffe die Transatlantikroute befahren haben. Eine Eisenbahnverbindung führte von Bordeaux bis zur Anlegemole, eine Zollabfertigung sorgte für den korrekten Grenzverkehr, für die Abfertigung der Passagiere gab es alles, was nötig war.
Von diesem Bauwerk, 1933 errichtet, ist heute nicht mehr viel zu sehen. Es war dazu gedacht, wie in einem Hafen Passagiere aus den zahlreichen Kolonien abzufertigen und sie bequem und ohne noch einen Tag auf dem Fluss zu verlieren, nach Bordeaux zu bringen. Dazu mussten großzügige Bauten errichtet werden, die ein Anlegemanöver unabhängig von den Gezeiten erlaubten.
Die Mole war 377m lang und 38m breit und bestand aus einer armierten Betonplattform mit Stützen, die bis zu 8m tief in dem Grund der Gironde ruhten. Eine geschwungene Zufahrt von 372m Länge führte vom Festland zu den Einrichtungen bestehend aus dem Bahnhof, den Sortiergeleisen, den Hangars, einer Not-Station, einer Post und anderen Gebäuden. Am 22. Juli 1933 wurde dieser Seebahnhof mit der Ankunft der Champlain aus New York eingeweiht.
Trotz der Nachteile seiner Lage blieb der Hafen in Bordeaux für die Reedereien jedoch attraktiver und das eher geringe Passagieraufkommen im Seebahnhof enttäuschte alle Erwartungen. Etwa 100 Transatlantikliner legten während der kurzen Lebensdauer an dem „avant-port“ (Vor-Hafen) an. Der 2. Weltkrieg bedeutete das Ende dieses verrückten Abenteuers eines Seebahnhofs irgendwo im Nirgendwo. Die deutsche Besatzung, die Royan und die Pointe Grave kontrollierten, sprengten den Seebahnhof am 11.11.1944.
Weitgehend vom Touristenstrom unentdeckt sind heute die immer noch beeindruckenden Reste der Plattform zu sehen. Sie zeigt sich als archäologisches Relikt aus dem 20. Jahrhundert mit bemerkenswerter Beharrlichkeit, als Rest einstmaliger französischer Ingenieurskunst.
2019 Christian Büttner (Saint-Vivien)