Der wilde Baum
Er steht in meinem Garten, und er ist dennoch ein wilder Baum. Wir haben ihn nicht gepflanzt, er ist von ganz allein gewachsen, zweifellos ein Überläufer aus dem Nachbargarten. Ein einzelnes unternehmungslustiges Samenkorn hat eines Tages beschlossen, zu einem Abenteuer aufzubrechen, indem es alle anderen zurückließ und sich dem Versprechen des Windes überließ.
Dieser Wildling ist ein Erdbeerbaum. Er hat sich zwischen die Magnolie, die Yucca und den Lorbeer gezwängt und ist lautlos, ganz in der Nähe bei uns groß geworden. Alle Jahre bietet er uns großzügig seine Früchte an. Wir warten auf ihre Reifezeit. Man sieht die gelb-grünen Kugeln des Erdbeerbaumes, die noch nicht reif sind zusammen mit den anderen Früchten, die gerade rot und reif werden.
Der Erdbeerbaum ist so wild, dass er sich nicht an den normalen Wachstumsablauf von Bäumen hält. Originell und ungewöhnlich wie er ist, bietet er zur selben Zeit reife und unreife Früchte sowie Blüten an, die an Maiglöckchen erinnern. Je weiter man an dem Baum hochschaut, umso reifer sind die Früchte. Sicher, sie sind der Sonne näher!!! Und noch weiter oben sind sie bereit für die Konfitüre.
Aber wir haben ernste Konkurrenten: den Wind und die Vögel. Der erste wirft sie rücksichtslos auf den Boden und die zweiten knabbern sie an. Und was machen wir? Wir beobachten das alles und machen das Beste daraus. Aber ich sehe sie gerne an ihren Zweigen hängen wie Schmuck an einem Weihnachtsbaum; sie heben sich ab gegen den blauen Himmel, gemeinsam mit den weißen Glöckchen.
Aber so wild er auch ist, der Erdbeerbaum hat doch eine edle Abstammung. Er erscheint sogar im Wappen der spanischen Hauptstadt. Der Bär symbolisiert die Kraft, der Erdbeerbaum: die Macht. In Algerien, der Heimat der Hexenkunst, benutzten die Berber die Äste des Erdbeerbaumes bei Teufelsaustreibungen. Die Römer bedienten sich seiner sogar, um Hexen zu jagen, aber auch, viel pragmatischer, um kranke Kinder zu heilen. Übrigens kennt man ihn in der Pflanzenheilkunde gut unter seinem lateinischen Namen arbutus unedo wegen seiner harntreibenden und entzündungshemmenden Eigenschaften. Die Italiener haben ihn während der Epoche des RISORGIMENTO zu ihrem Wahrzeichen gemacht, denn seine Blüten, seine Früchte und seine grünen Zweige stehen für die Farben ihrer Flagge. Im Süden von Korsika bringen Kinder am Neujahrstag einen Erdbeerbaumzweig in die Häuser der Nachbarn; im Tausch dafür erhalten sie dafür Kuchen, Bonbons oder ein Geldstück. Am Ende ihrer Tour teilen sie sich die Geschenke.
Wenn der Erdbeerbaum zugleich Blüten und Früchte präsentieren kann, dann, weil er von Gott gesegnet ist. Eine Legende erzählt, dass Jesus sich in einem Erdbeerbaum versteckt hat, als er von römischen Soldaten verfolgt wurde. Aber eine Erikapflanze daneben war eifersüchtig und verriet ihn. Jesus wurde gefangen genommen. Seitdem wird der Erdbeerbaum damit belohnt, dass er viele Früchte trägt , während die eifersüchtige Erika dazu verdammt wurde, niemals Früchte zu haben. Ich bin sehr stolz darauf, diesen Wildling in meinem Garten zu haben, und ich danke ihm dafür, dass er ihn als seinen Wohnsitz gewählt hat.
2015 Simone Casabon (Le Taillan), Übersetzung: Angela und Dieter Botzenhardt